The Great Green Re-Entanglement

Ein Gespräch zwischen Prof. Hans Joachim Schellnhuber und Boris Kochan über die Wiederverflechtung des Natürlichen mit dem Hochkultivierten

Boris Kochan: Herr Professor Schellnhuber, ich gratuliere Ihnen sehr zum Ehrenpreis des Deutschen Nachhaltigkeitspreises (DNP). Sie persönlich stehen als Klimafolgenforscher in ganz herausragender Weise für das Thema Nachhaltigkeit. In den letzten Monaten hat sich in der Kultur- und Kreativwirtschaft der Eindruck verdichtet, dass Sie der eigentliche Vater der Idee NEW EUROPEAN BAUHAUS sind. Können Sie uns erzählen, wie das zustande kam?

Hans Joachim Schellnhuber: Der Erfolg hat viele Väter und Mütter – ich glaube die Gesellschaft ist einfach reif für einen Diskurs über die Art wie wir leben, bauen, wohnen. Dafür braucht es ein paar griffige Formulierungen, und ja, ich bin einer derjenigen, die diese Losungsworte verbreitet haben. Dabei gehöre ich nicht zur Community, ich bin kein Designer, kein Kreativer im engeren Sinne. Aber ich habe mich immer für Architektur, für Kunst, für Bauentwicklung interessiert. Und ich habe schon vor vielen Jahren erkannt, dass wir – wenn wir die gebaute Umwelt nicht nachhaltig transformieren – alle Klimaziele verfehlen, sich unsere Landschaften zu Agrarwüsten verwandeln und wir der Biodiversität schaden werden. Der Elefant im Nachhaltigkeitsraum ist die gebaute Umwelt. Wir haben das vorgerechnet, wir haben dazu publiziert, wir haben das quantitativ dargelegt. Und unser Ruf, quasi schräg von der Seite in die Gemeinschaft der Kreativen, der Planer, der Designer, der Architekten hinein, hat große Wirkung gehabt.

bk: Das kann ich bestätigen. Wie ist es gelungen, an der richtigen Stelle im richtigen Moment mit den richtigen Menschen zu sprechen?

Ursula von der Leyen hat intuitiv und selbstständig entschieden, dies zum Thema ihrer »State of the European Union Speech 2020« zu machen.

hjs: Sie meinen, was das NEW EUROPEAN BAUHAUS angeht? Ursula von der Leyen hat intuitiv und selbstständig entschieden, dies zum Thema ihrer »State of the European Union Speech 2020« zu machen.

bk: Ja, wir waren alle sehr überrascht, niemand hat damit gerechnet, dass ausgerechnet von der Europäischen Kommission eine solche Initiative ausgeht!

hjs: Sie hat das NEW EUROPEAN BAUHAUS auch dieses Jahr wieder aufgegriffen und mir gesagt: »Es ist doch schön, wenn die Kommission die Öffentlichkeit auch mal überraschen kann.« Die grundsätzliche Idee geht tatsächlich auf ein Gespräch zurück, in dem sie mich unter anderem nach Anregungen für die letztjährige »State of the European Union Speech« fragte. Entscheidend für meinen Hinweis war es, dass das Pariser Abkommen tot ist, wenn man nicht die gebaute Umwelt nachhaltig transformiert. Dazu kamen die vielen Ereignisse zum hundertjährigen Geburtstag des Bauhauses in 2019, die sich vielfach in Rückwärtsbetrachtungen erschöpft haben.

bk: Ein Großteil der Veranstaltungen zum Jubiläum des Bauhauses war tatsächlich rückwärtsgewandt – ziemlich genau das Gegenteil zur Grundhaltung des Bauhauses.

Wir müssen jetzt völlig neu denken – über Material, über Form, über Funktion, über Struktur, über Kultur …

bk: Da gab es diese Konferenz in der Nähe von Potsdam …

hjs: Ja, in Caputh, nicht weit von Einsteins Sommerhaus, das von Konrad Wachsmann aus Holz gebaut worden ist. Da haben wir uns bei Nathalie von Siemens und Hans-Wolfgang Pausch zu einem Initiativkreis versammelt. Mit der Unterstützung dieser renommierten Persönlichkeiten haben wir die Erklärung von Caputh niedergeschrieben, auf nur zwei Seiten: Darin steht die Forderung nach einer neuen Bauhausbewegung. Ich habe das zwar angestoßen, als Physiker und Klimaforscher, aber ich musste mir unbedingt die Kompetenz derjenigen holen, die wirklich was davon verstehen.

Ohne Interaktion, ohne die Aus­einandersetzung mit der Aufgaben­stellung und mit den Menschen entstehen keine weitreichenden Lösungen. Interdisziplinarität ist ein Kernelement von Design – und auch der Ideen des Bauhauses.

bk: Sie beschreiben damit ein wesentliches Element von Designprozessen: Ohne Interaktion, ohne die Auseinandersetzung mit der Aufgabenstellung und mit den Menschen entstehen keine weitreichenden Lösungen. Interdisziplinarität ist ein Kernelement von Design – und auch der Ideen des Bauhauses.

hjs: Das war der Ansatz, den es galt, unbedingt wiederzubeleben. Heute können wir die Welt nur noch verstehen und erst recht gestalten, wenn wir über die Fachgrenzen hinausdenken. Wenn wir alle Gewerke miteinander verbinden, von der Politik bis zur Zimmerei. Weil Sie Design ansprechen: Ein Mitglied im Caputher Initiativkreis ist Professorin Annette Hillebrand, die in Wuppertal unterrichtet. Sie propagiert, dass wir zu 100% recyceln müssen, Abfall ist für sie ein Designfehler. Wir müssen Gebäude so errichten, dass wir sie wieder vollständig demontieren und zerlegen können … und die Materialien wieder verbauen. In neuer Form, mit neuer Funktion. Mit anderen Worten, eigentlich alles, was heutzutage gebaut wird, muss jetzt auf den Prüfstand, weil wir uns seit den Fünfzigerjahren in eine Sackgasse manövriert haben. Abfall, Emissionen, Dysfunktionalität, Hässlichkeit, Flächenverbrauch. Und die Menschen – bis auf wenige Privilegierte – fühlen sich noch nicht mal wohl in den für sie gebauten Häusern.

bk: Was wünschen Sie sich als einer der Initiatoren der neuen Bauhausbewegung speziell von den Designerinnen und Designern? Was ist Ihre Erwartung an sie?

hjs: Ich könnte jetzt natürlich das klassische Zitat bringen: »Form Follows Function.« Aber was ist die Funktion des Bauens heutzutage? Wir müssen nicht nur den Eliten, sondern auch den Massen menschenwürdigen Wohnraum zur Verfügung stellen. Natürlich nachhaltig, also innerhalb der planetaren Grenzen. Die Menschen müssen sich wohlfühlen können – also Zugang zur Schönheit, zur gelungenen Gestaltung haben. Darüber hinaus ist »Einfachheit« ein entscheidender Faktor. Wenn ich heute beobachte, wie diese Superpassivhäuser oder Superaktivhäuser – wie sie auch immer genannt werden – mit Haustechnik vollgestopft werden bis zur Oberkante … mit Maschinen, in denen Menschen höchstens noch geduldet werden …

Ich bin als junger Mann durch Afrika gereist und konnte die fantastischen Bauweisen in der Sahelzone kennenlernen. Und lernen, wie die Menschen mit einfachen, aber genialen Formen auch in einem Wüstenklima angenehme Lebensverhältnisse schaffen. Ich bin überzeugt, dass wir von Grund auf nachdenken müssen: Welche Materialien verwenden wir? Wie setzen wir die Gebäude zusammen, damit wir sie wieder zerlegen können? Ohne toxische Leime und Ähnliches. Wie schaffen wir es, dass viele Funktionen vom Gebäude selbst übernommen werden? Was ist mit der Struktur der Städte? Wenn die Raumplanung zum Beispiel eine polyzentrische Entwicklung verfolgen würde oder die Stadtviertel eine klimagerechte Topographie hätten, dann würde die Belüftung weitgehend durch die Natur besorgt. Sie müssen dann keine großen Maschinen aufbauen. Ich will sagen: Wie kann man mit maximaler Einfachheit die Funktionen erfüllen, die man heute braucht? Und ich bin absolut davon überzeugt, dass Einfachheit auch einen großen ästhetischen Reiz hat.

Unter der Begrifflichkeit Social bzw. Transformation Design geht es um die Gestaltung des Zusammenlebens, um die Gestaltung von Gesellschaft.

bk: Neben der Gestaltung von Funktion und Ästhetik kommt dem Design in seiner neueren Selbstbestimmung auch eine wesentliche Aufgabe in der Prozessgestaltung zu, in der Art und Weise, wie Menschen darauf vorbereitet werden, dem Neuen zu begegnen. Und genauso, wie fundiert ihre Bedürfnisse in Partizipationsprozesse einbezogen werden. Unter der Begrifflichkeit Social bzw. Transformation Design geht es um die Gestaltung des Zusammenlebens, um die Gestaltung von Gesellschaft.

hjs: Das ist ein hochinteressanter Gedanke. Fähige Designer entwerfen somit nicht nur eine Form, eine Funktion mit maximaler Einfachheit, sondern realisieren diese auch kooperativ. So entsteht eine Produzenten-/Konsumenten-Situation, ein Co-Design-Prozess. Social Design, so wie ich Sie verstehe, ermöglicht das Zusammenwirken einer Gruppe von Menschen mit Architekten und Designern zur Gestaltung des Lebensraums – und dies wohl am besten fluid, in einem dynamischen Prozess.

bk: Ja, am allerbesten in einem sich kontinuierlich fortentwickelnden Prozess.

Ich bin davon überzeugt, dass wir vor einer großen Revolution stehen, in der sich die gebaute Umwelt mindestens so sehr verändern wird, wie das infolge der Industriellen Revolution Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit den Arbeitsbedingungen und Lebensumständen passiert ist.

hjs: Siedlungen könnten auf diese Weise wie ein Organismus betrachtet werden. Dessen Entwicklung vielleicht erst einmal recht einfach ist, dann komplizierter und wieder einfacher wird, und so weiter. Dessen Entwicklung in einem kontinuierlichen, professionell gestalteten sozialen Diskurs geschieht – das wäre optimal, das wäre eine große Vision. Ich bin mir nicht sicher, ob das gelingen kann, aber das wäre eine neue Kulturstufe!

Ich bin davon überzeugt, dass wir vor einer großen Revolution stehen, in der sich die gebaute Umwelt mindestens so sehr verändern wird, wie das infolge der Industriellen Revolution Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit den Arbeitsbedingungen und Lebensumständen passiert ist.

bk: An dieser Stelle könnte dem Design, den Architekten und ganz allgemein den Kreativen noch eine weitere wesentliche Funktion zukommen – wenn es darum geht, die Menschen mitzunehmen. Das eine wird sein, Partizipation zu ermöglichen, mit systematischen, integrierenden Prozessen. Es muss aber genauso darum gehen, die Wege aufzuzeigen, wie die Menschen die Veränderungen akzeptieren können und sich am besten sogar mit dem Neuen identifizieren. Der Wandel wird passieren, unweigerlich …

hjs: Aber wer stößt ihn an?

bk:  Die allermeisten Menschen empfinden den Wandel ja nicht als etwas grundsätzlich Positives. Mit etwas Abstand betrachtet, wenn der Wandel weit weg ist, dann ist er interessant und vielleicht sogar erstrebenswert. Sobald er aber einen ganz persönlich betrifft, dann tun sich die allermeisten schwer damit.

hjs: Wenn der Wandel mir geschieht, er mir aufgezwungen wird – von den Umständen oder von der Politik –, dann wird er als bedrohlich empfunden. Wenn ich jedoch selbst der Gestalter des Wandels bin – da sind wir uns einig –, dann wird er positiv gesehen. Das entscheidende Stichwort dazu ist Selbstwirksamkeit. Denn daraus entsteht Selbstachtung und daraus wiederum die Achtung anderer! Idealerweise würde daraus folgen, dass unsere Siedlungen, die Quartiere, die Städte zukünftig co-designed sind. Das ist eine sehr positive Vorstellung. Wir brauchen dazu allerdings – das will ich nochmals betonen – ein erneuertes Verhältnis zur Natur.

Architektur muss sich die Natur zum Ausgangspunkt nehmen!

bk: Wir sind uns ja das erste Mal rein virtuell ohne die Möglichkeit des Austauschs beim Architekturtag der Bundesarchitektenkammer im Mai 2021 begegnet, zum dem ich als Präsident des Deutschen Designtags die Ehre hatte, ein Videogrußwort beizusteuern. Ich hatte darin insbesondere darauf abgehoben, dass Design und Architektur sich auf den Menschen beziehen, sich an ihm orientieren müssen. Sie haben damals direkt vor Ort darauf reagiert und mich korrigierend ergänzt: »Architektur muss sich die Natur zum Ausgangspunkt nehmen!« Wir konnten das dann leider nicht diskutieren, aber ich bin der Überzeugung, dass eine fundierte Orientierung am Menschen immer eine ist, die die Natur mit einbezieht, es also um das Ineinandergreifen von beiden geht. Ich hätte sehr gerne gesagt: »Einverstanden – wir brauchen da ein Plus!« Was ich hiermit nachhole …

hjs: Da sind wir uns völlig einig! Ich nutze sehr gerne einen Leitgedanken für diese Debatte, der im Englischen besser funktioniert: »The Great Green Re-Entanglement«, die große grüne Wiederverflechtung. Denken Sie an die »Charta von Athen« von 1933 zur funktionalen Trennung der städtischen Nutzungsflächen nach den Daseinsgrundfunktionen Wohnen, Arbeiten, Erholen und Verkehr. Das ist meiner Auffassung nach der tiefste Sündenfall der Stadtplanung im zwanzigsten Jahrhundert. Leider haben wir die industrielle Moderne unter der Prämisse entwickelt, die Natur zu bezwingen, zu unterwerfen, zu domestizieren – und wir merken jetzt an allen Ecken und Enden, dass es unbedingt notwendig wäre, die Natur zum Partner zu haben.

Heute wird über die »Fünfzehn-Minuten-Stadt« geredet, in der man in einer Viertelstunde einen Arzt erreichen kann, einen Konsumladen, was auch immer. Ich hielte es für entscheidender, wenn wir zu Fuß innerhalb von wenigen Minuten auch ein Stück Natur erreichen könnten! Mein Ideal ist die Rückflechtung des Natürlichen mit dem Hochkultivierten – unter dem Slogan: »High-Tech meets No-Tech.« Ich glaube, wir stehen da wirklich am Beginn eines neuen Zeitalters.

bk: Das überzeugt mich … und bringt mich zu einer abschließenden, persönlichen Frage: Was treibt Sie persönlich?

Dieses Gefühl, dass mir mit der Flurbereinigung meine Heimat entrissen wurde – das hat mich mein ganzes Leben lang begleitet

hjs: Im Prolog meines 2015 erschienenen Buches »Selbstverbrennung« habe ich dazu etwas geschrieben. Ich bin in Niederbayern, unweit von Passau aufgewachsen, in einer wirklich ikonischen Landschaft: der Grafschaft Ortenburg, einer Art bayerischer Toskana. Damals gab es keinen Kunstdünger, keinen Traktor, gar nichts. Es waren die glücklichsten Jahre meines Lebens. Um 1960 kam dann die »Flurbereinigung« – alle Hecken ausgerissen, alles Naturkrumme begradigt. Funktionale Entflechtung hieß im Gegensatz zur Stadt hier, dass die Ackerflächen für den Traktor direkt zugänglich gemacht wurden. Rüben da, Weizen dort, und so weiter. Ich habe das als eine fundamentale Zerstörung meines Kindheitsparadieses empfunden. Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint – mit einer Hochbegabung für Mathematik. Diese Fähigkeit hat mich zu den Naturwissenschaften gebracht. Aber dieses Gefühl, dass mir mit der Flurbereinigung meine Heimat entrissen wurde – das hat mich mein ganzes Leben lang begleitet.

Auch deswegen will ich gerne einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass wir wieder Frieden mit der Natur schließen. Und ich bin überzeugt, dass die Architekten, die Stadtplaner, die Designer und die Kreativen einen gehörigen Anteil dazu beitragen können und auch müssen!

bk: Allerdings! Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Hans Joachim Schellnhuber ist Direktor Emeritus des Potsdam-Instituts für Klima­folgen­forschung (PIK), das er selbst im Jahr 1992 grün­dete. Er ist Gast­professor an der Tsinghua-Uni­versität (China) und gewähltes Mit­glied zahl­reicher Gelehrten­vereinigungen wie der Päpstlichen Akademie der Wissen­schaften, der deutschen National­akademie Leo­poldina und der US National Academy of Sciences. Seit 2019 beschäftigt Schellnhuber sich intensiv mit der Schaf­fung eines »Bauhauses der Erde« und ist derzeit Mitglied des NEW EUROPEAN BAUHAUSHigh-level roundtable.

Boris Kochan ist Gründungs­präsident des Dach­verbands deutscher Design­organ­isa­tionen, Deutscher Designtag, Vize-Präsident des Deutschen Kultur­rats, Präsident der Inter­nationalen Ver­einigung für die Förderung von nicht-latein­ischen Schriften und deren Anwendung, GRANSHAN Foundation, Vor­sitzender des Beirats der Typo­graphischen Gesellschaft München (tgm) und geschäfts­führender Gesellschafter der Branding- und Designagentur KOCHAN & PARTNER. Seit Anfang 2021 gibt er einen wöchentlichen News­letter mit »Streifzügen durch den Wandel« heraus: »eight days a week«, oder kurz 8daw.

Illustrationen von Martina Wember.
Portrait Hans Joachim Schellenhuber von Frédéric Batier.
Portrait Boris Kochan von Dominik Parzinger.